Kontinuierliche Infos aus der Ukraine gibt es bei wideawakefamily.com im Blog von Kim - direkt aus Zytomir

Sonntag, 27. März 2022

Unter der Oberfläche - ein Samstagmittag in Kaufbeuren - zwei Wochen später

 Der Gottesdienstraum der Kirche ist ein friedlicher Platz. Boris steht am Fenster und schaut nach draußen auf den Hof. Er sonnt sich. Anton dreht die Rädchen seines Spielzeugautos. Sascha singt – wie immer wenn er entspannt ist – ein Kinderlied vor sich hin. Ruslan kommt mir entgegen und gibt mir die Hand. Auch sonst werde ich freundlich aufgenommen, werde schnell Teil der Gruppe, die hier ihre gemeinsame Mittagsruhe verbringt und darf nach einiger Zeit mitspielen. – Nicht beim Schach, das zwei der Betreuer spielen, sondern mit den Jungs. Spielen, der damit verbundene Austausch und (Körper)kontakt, das ist das, was wir gemeinsam tun können; eine gemeinsame Sprache steht uns ja nicht zu Verfügung- oder: das ist unsere gemeinsame Sprache.

Gestern Mittag habe ich Sara kennengelernt. Sie kommt für zwei Monate aus den USA um zu helfen, wird in den nächsten Tagen Vlads Alltagsbegleiterin und Übersetzerin sein, wenn er in Kaufbeuren in eine betreute Werkstätte gehen wird. – Er kann ja englisch, auch wenn ich nur die Hälfte seiner begeisterten Erzählungen verstehe, mit denen er mir erläutert, was er in den vergangenen Tagen im Werkraum der Kirche produziert hat. (Ein Brettchen mit einem mit dem Lötkolben ins Holz gebrannten Selbstporträt berührt mich deutlich mehr als der genauso entstandene Rennwagen, den er mir immer wieder zeigt.) – Sara hat bis vor 2 Jahren ungefähr für Mission to Ukraine gearbeitet, hat sich einen langen Urlaub genommen und möchte sich jetzt wieder für die Ukraine engagieren.

Und dann ist da, neben all den ukrainischen Helfern, Alltagsbegleitern und jungen Leuten, die einfach mit zur Familie gehören, noch Daianna. (Deren Name wie alle anderen hier mit Vorbehalt zu lesen ist. – Dort trägt niemand Namensschilder und eigentlich war ich ja nicht als Journalist, sondern einfach nur als Besucher da.) Sie war gestern – und ist das regelmäßig - als eine Art Vertreterin der Kirche da, verbringt Zeit mit den Menschen, unterstützt, wo man sie brauchen kann, bildet eine der Brücken in den deutschen Alltag der Umgebung. Sie ist nicht die Einzige, die das macht – aber ich sag jetzt einfach mal: Sie macht es besonders gut. Komplett unausgebildet für jegliche soziale Arbeit, tut sie genau diese. Sie folgt ihrem Gefühl für das Richtige und Notwendige, ist einfach da, genießt den Moment und hat schon angefangen, ukrainisch zu lernen um immer mehr in Kontakt gehen zu können. – Ja, sie ist nicht die Einzige aber es sollte dort einfach mehr von ihr geben.

Denn (und das ist eine der Kehrseiten dieses friedlichen Beisammenseins): trotz aller inzwischen ordentlich strukturierten Gemütlichkeit ist der Alltag anstrengend. – Dass ich alles, was dort an einem Samstagmittag abgeht beschreiben kann, dass ich den Wochenplan kenne, weiß wann wer wen betreut oder duscht oder wann welcher Ausflug geplant, wann Spielenachmittag und wann Unterricht ist…  all das ist nur möglich, weil es keine wirklichen Rückzugsräume gibt. Der Gottesdienstraum ist das gemeinsame Wohn- Arbeits, und Spielzimmer. Solange das Wetter so bleibt gibt es noch den Raum um die Kirche, aber wirklicher Rückzug ist in dieser Community nicht möglich.

So kann man leben. Aber es verursacht auch eine Menge Stress. Man kann im Matratzenlager schlafen, aber so ein Bisschen mehr Privatheit wäre sicher irgendwann schön. – Und: zu 30st eine (!) Dusche zu teilen, eine Dusche, in der regelmäßig auch die Jungs sauber gemacht werden müssen…   …das will nicht wirklich jemand.

Ja, die Wideawakefamily ist in Sicherheit, es läuft gut und ein kleines Stückchen Normalität hat in ihrer ‚Flüchtlingsunterkunft‘ angefangen, den Alltag zu bestimmen. – Aber es ist nicht einfach nur leicht und es gibt noch viel zu tun. Da ist nicht nur die Suche nach einer etwas geeignteren Unterkunft; noch nicht einmal die Krankenversicherungskarten sind da und wenn jemand vor Zahnschmerzen nicht mehr schlafen kann – wie dieser Tage geschehen – muss man, ohne die örtlichen Gegebenheiten wirklich zu kennen, ohne Sprache und ohne Versicherungskarte einen Weg in unser Gesundheitssystem finden. Das ist nur ein Beispiel der vielen Dinge, die gerade auch Kim beschäftigen, so sehr beschäftigen, dass die Öffentlichkeitsarbeit von Wideawake im Moment weitgehend ruht. (Es gibt gerade keine neuen Videos :(: Nach einem 15 Stundentag als Chefin, Krankenschwester und teilweise auch Köchin, Aufgabenbetreuerin und nebenher auch noch Mama dieser Veranstaltung, stellt sie fest, dass sie nicht mehr wirklich die Kraft hat, über all das zu schreiben oder zu sprechen, die vielen kleinen Entscheidungen zu treffen, die so große Auswirkungen haben können, wenn man Öffentlichkeitsarbeit macht: Was genau soll ich erzählen – und in welchem Tonfall? – Oder stell ich mich lieber doch an der spätabendlichen Schlange vor der Dusche an?

Lagebesprechung am Samstagabend bzw. in USA -mittag (im Pastorat)

Hier steckt auch einer der Gründe dafür, warum Jed noch da ist. Es ist einfach zu viel zu tun. Seine Familie braucht ihn. – Auch wenn die Sorge um den Teil der Familie, der in Shytomir die Arbeit vor Ort weiter macht, die Bedürftigkeit dort, alles was dort zu tun wäre, nach ihm zu rufen scheint. Es steht jeden Tag die Frage im Raum, wie lange funktioniert Wideawake in Shytomir? Dort wird inzwischen ein Flüchtlingsstützpunkt und eine Hilfsgüterverteilungszentrale betrieben. (Und der Ausbau, dieser Hilfe vor Ort ist geplant - doch davon erzähle ich ein anderes Mal.)  Doch wie lange geht das gut ohne persönliches Management vor Ort? Wieviel Umbau, Veränderung und Stress kann man am Telefon steuern und begleiten? Wann zerbricht diese Arbeit, wann machen sich auch noch die zurück gebliebenen auf den Weg nach Westen, wenn man nicht nachschaut, Präsenz zeigt, versteht, was die eigentlichen Herausforderungen sind und die wesentlichen Entscheidungen in all diesen Veränderungen vor Ort mit begleitet? Irgendwann wird das so sehr ziehen, dass Jed mit einer kleinen Karawane mit Hilfsgütern losziehen wird; vielleicht nächsten Freitag.

Ein großer Transport ist schon unterwegs (siehe die Berichterstattung von Humedika – dort kann man auch nachlesen bzw. -sehen, was sie an Nahrung, Hygieneartikeln und Alltagsgegenständen zusammengepackt haben) Aber – und das ist zum Schluss meines Berichts noch eine persönliche Mitteilung zum Thema ‚Verwendung eurer Spendengelder‘: Im kleinen Transport der kommenden Woche befindet sich auch ein (gebraucht und bei ebay gekauftes) Lastenfahrrad, das dann vielleicht schon in zwei Wochen die Hilfsgüter zu den Menschen in den Dörfern um Shytomir bringt, das da, wo Benzin gerade unendlich knapp und die Wege trotzdem weit sind, als Transportmittel all der wichtigen Dinge dienen kann, die im Krieg eben nicht mehr einfach nur im Laden zu kaufen sind.


Und da, wo es hinkommt wird es auch erzählen wer diese Unterstützung bringt: Ich habe es gestern großzügig mit eigens dafür fabrizierten Aufklebern dekoriert, denn auch dort gilt: Es genügt manchmal nicht, einfach nur Gutes zu tun. Immer wieder muss man auch darüber reden und so andere ermutigen, doch mitzumachen.

BeLove[d]

und: Link zur Gemeindehomepage  (mit Spendenkonto :)

Montag, 21. März 2022

Boris ist wieder mal in Deutschland

Mein Tag hat heute damit angefangen, das neueste Video von Wideawake zu sehen. (vgl. das aktuelle Video auf Youtube.com) Dort sieht man wenig Text, sondern einfach nur Szenen aus dem Alltag. Ich sehe Boris wie er aus dem Fenster eines Reisebusses schaut: konzentriert, ausdauernd und total interessiert und ich sehe Boris in seinem provisorischen Zuhause in Kaufbeuren in der Kirche.


Boris mit Tanja - letzte Woche in Kaufbeuren

Ja, Boris ist wieder mal in Deutschland. Aber dieses Mal als Flüchtling. Ich erinnere mich an den Boris, den ich vor sechs Jahren kennengelernt habe. Er war auch damals schon über 20 aber noch lange nicht in der Pubertät. Er ist auch heute noch klein und schmal, sieht aber aus wie ein junger Mann. Was er damals schon hatte, ist diese enorme innere Ruhe, eine distanzierte Zugewandtheit, die, einmal überwunden, eine stille Freundlichkeit offenbart, die eine Begegnung zur Bereicherung macht. – Aber das auch ‚dosiert‘. Boris ist alles andere als distanzlos.

Damals in Romaniv im Kinderheim hat Jed immer für ihn Gitarre gespielt. (Vgl. auch wieder ein – inzwischen altes aber immer noch schönes Video auf youtube.com) Musik führte dazu, dass Boris aufgehört hat sich zu schlagen und von seinen Nannys nicht mehr angebunden werden musste. Als Boris das Kinderheim dann verlassen durfte – als erster ukrainischer junger Mann aus der staatlichen Fürsorge entlassen wurde, obwohl der das adoptionsfähige Alter schon mehr als 10 Jahre hinter sich gelassen hatte - …als er dann eine neue Heimat fand, einen Platz mit viel Musik, regelmäßigem Windelwechsel, einen Platz, an dem es immer genug zu essen gab und Kinder die mit ihm spielen wollten und einen Platz, n dem er stundenlang in der Badewannen planschen durfte, ja auch dann hat es noch Jahre gebraucht bis er aufgehört hat, sich selbst zu verletzen.

Als ich 2016 dort in Romaniv war, hat mich einmal eine Nanny gefragt, warum denn die Kinder sich immer selbst wehtun: den Kopf gegen die Wand oder sich die eigenen Fäuste ins Gesicht schlagen. Ich hab mir viel Zeit genommen, ihr zu erklären, wie ich dieses Verhalten verstehe. Sie hat mich trotz Übersetzung nicht verstanden. „Stress?“, war ihre Gegenfrage, „die Kinder habe es warm und zu essen. Warum sollten sie Stress haben?“ Aus ihrer Sicht waren diese Kinder privilegiert, weil sie, ohne jemals arbeiten zu müssen, einfach versorgt wurden. Dass Menschen – zumal Kinder – mehr brauchen als Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf: Darüber hatte sie sich offenbar noch nie wirklich Gedanken gemacht.

Meine Gedanken in den Jahren dazwischen gingen in Richtung Rollstuhl- oder auch sonstige orthopädische Versorgung. Boris hat uns in diesem Zusammenhang auch mal besucht. – Und es war auch damals schon etwas ganz Besonderes, ihn in unserer Badewanne sitzen zu haben. Ihn so ganz anders zu erleben als bei sich zuhause oder gar in Romaniv damals im Kinderheim. In letzter Zeit dachte ich, wie letzte Woche geschrieben, an ein Lastenfahrrad, ein „Bike for Boris“.


Um Boris - und nicht nur ihm - ein Zuhause zu geben, dafür sind Kim und Jed damals in die Ukraine gegangen. Jetzt sehe ich sie wieder, sehe, wieviel Menschen sie bereits mit ihrer Idee angesteckt haben, ich sehe im Video, was sie tun und wie sie es tun. Und es berührt mich.

Das wollte ich mit Euch teilen.

 Liebe Grüße

Matthias

(Die ganze Geschichte von wideawake gibt’s auf der Webside https://wideawakeinternational.org und einen Hinweis auf unser Spendenkonto bei der Evangelisch methodistischen Gemeinde in Entringen ganz am Ende der Seite.) 

Dienstag, 15. März 2022

...damit mein Briefarchiv vollständig bleibt: "FLÜCHTLINGE"

 Hallo Ihr Lieben,

weil ich in der Quarantäne gerade zuhause sitze, habe ich Zeit, mal einen ganz anderen Brief "zu schreiben".

Ich hab (anstatt nur immer zu empfehlen, wie lesenswert ist, was sie schreibt) einfach mal übersetzt, was Kim vor einer Stunde auf ihrer Website veröffentlicht hat

Liebe Grüße

Matthias

 


Flüchtlinge

Von Kim Johnson, https://www.wideawakefamily.com

Heute schreibe ich von einer Kirche in Kaufbeuren, Deutschland. Wir sind im kleinen Spielzimmer und Evie spielt mit einer Tasche von Spielzeug, das wir von zuhause mitgebracht haben. Wenn man aus dem Krieg flieht ist es dringend zu empfehlen, eine Tasche voller Barbies mitzunehmen …

Letzten Samstag, am 05. März haben wir den unvorstellbaren Entschluss getroffen, unser Heim zu verlassen – ohne zu wissen, wann wir wieder zurückkommen würden. Die Bombardements in unserer Stadt wurden regelmäßiger und es wurde immer klarer, dass die Russen auch einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führen. In der Ukraine ist es im Moment nirgendwo sicher. Wir haben wirklich mit dem Entschluss gerungen und waren eigentlich entschlossen gewesen uns zuhause zu verstecken und es auszusitzen aber die nächtlichen niedrigfliegenden Flugzeuge, die Luftschläge, die das Hauserschütterten und jedes Mal den Autoalarm losgehen ließen, haben dazu geführt, dass wir unsere Pläne noch einmal überdacht haben. Wir sind für einige der verwundbarsten Menschen der Ukraine verantwortlich und unsere Jungs können uns noch nicht einmal erzählen, wie sich angesichts des Krieges fühlen. Tatsächlich können sie unsere Anspannung fühlen, können die Angst in unseren Gesichtern sehen, aber wirklich verstehen können sie nicht. Und sie konnten uns nicht danach fragen, sie bitte in Sicherheit zu bringen, deswegen mussten wir für sie entscheiden. Ich sage euch, nie in einer Million Jahren hätte ich mir vorstellen können, im Flur unseres Hauses zusammengeduckt mit meinen Kindern zu sitzen, während das ganze Haus von Explosionen in einiger Entfernung erschüttert wird. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Jed und ich damit ringen, dass es zu spät sein könnte, mit unseren Kindern sicher da rauszukommen wenn die Kämpfe noch näher kommen. Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass wir fliehen würden aus dem Heim, das wir mit so viel harter Arbeit zu einem sicheren Hafen für jeden, der zu uns kam, ausgebaut haben. Aber: hier sind wir jetzt eine Woche später, Flüchtlinge in einem Land, in dem wir die Sprache nicht verstehen und keinen Plan haben, wie es weitergehen soll. Es ist für alle unvorstellbar.

Es sind 36 von uns jetzt hier in Deutschland. Zur Gruppe gehören 10 Menschen mit Behinderung und 14 sind Teens oder Kinder. Der Rest sind Team- und Familienmitglieder unseres Teams. Alle leben wir zusammen in einer Kirche, die uns mit offenen Armen aufgenommen und uns unglaubliche Liebe und Großzügigkeit gezeigt hat. Ich wüsste nicht, wo wir ohne sie wären. Sie haben unsere Evakuierung ermöglicht, weil wir wussten, dass es einen sicheren Ankunftsplatz gibt. Wir werden ihnen immer dankbar sein.

Zuhause in der Ukraine ist der Rest unseres Teams damit beschäftigt, unsere Heimat zu bewahren, aufeinander Acht zu geben und in Zusammenarbeit mit Stadt und Dorfrat humanitäre Hilfsgüter in unserer Region zu verteilen. Außerdem gibt es 3 Mamas mit erwachsenen Kindern mit Behinderung, die zu unserer Wideawakefamily dazu gehören und im Haus wohnen. Ich bin so stolz auf unser Team: hier und dort in der Ukraine. Die Arbeit, die sie tun ist wichtig und notwendig.

Früher als wir in den USA gelebt haben habe ich viele Flüchtlinge getroffen. Ich denk mal, ich war freundlich zu ihnen, aber, um ehrlich zu sein, all zu viel über sie nachgedacht habe ich nicht. Ich denke mal, ich habe einfach angenommen, dass sie glücklich und dankbar sind, in den Staaten sein zu dürfen. Ich wusste, sie brauchen anfangs Unterstützung dabei, ihre körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen – aber ihr gefühlsmäßiges Befinden hatte ich nicht wirklich auf dem Schirm. Ich hatte keine Ahnung, wie emotional zerstörerisch es ist, Flüchtling zu sein. Noch nie in meinem Leben habe ich solche Traurigkeit erlebt. Keine Ahnung, wie ich es sonst beschreiben soll, außer: Ich bin tief, tief traurig, vernichtet von diesem Verlust und sogar unsicher wie ich anfangen soll zu trauern oder weitermachen. Ich hänge fest in meiner Traurigkeit, das verloren zu haben, was war. Ja, ich gräme mich um die Sachen, unser Haus, das Doppelhaus, unsere Hunde – aber noch mehr gräme ich mich um den Verlust unseres Alltags, der niemals mehr der gleiche sein wird. Ich erinnere mich an die Nacht bevor wir gegangen sind, ich saß auf der Couch mit meiner Hava und sie weinte. Sie sagte: „Mir wird gerade klar, dass unser Leben niemals wieder so sein wird, wie es einmal war.“ Gerade als sie dieses Satz beendet hatte wurde unser Haus von einer Explosion in der Ferne erschüttert. Ja, wir waren tatsächlich in eine neue Realität hinübergewechselt: Ein Davor und ein Danach. Grade noch haben wir wieder einmal einen Geburtstag im Doppelhaus gefeiert mit unserer Wideawakefamily, die Kinder waren dabei, sich auf den Weg zu machen zu ihrer Jugendgruppe, wir haben abendliche Hausarbeiten gemacht, haben Evie in der Vorschule abgesetzt, die sie so sehr mochte, Lebensmittel eingekauft und Individualschulungen für unsere Jungs geplant – und eine Woche später sehen wir, wie der Himmel aufleuchtet und Gebäude in unserer Stadt von russischen Raketen zerstört werden. In ganz kurzer Zeit sind wir von der Planung der Bespaßung unserer Jungs zur Planung der Evakuierung von 36 Menschen über die Grenze gewechselt. Das fühlt sich immer noch nicht real an.

Flüchtling sein bedeutet, alle Hoffnung und Träume zu pausieren und nicht zu wissen wann oder ob überhaupt du sie wieder aufgreifen kannst. Flüchtling sein bedeutet, sich voll und ganz auf Freundlichkeit und Großzügigkeit anderer zu verlassen. Flüchtling sein bedeutet Verlust, Trauer und Schmerz. Da ist Erleichterung, dass deine Kinder sicher sind, aber auch Schuld, dass du so viele zurück gelassen hast. Es heißt, damit zu Recht kommen zu müssen, dass niemand dich verstehen wird, weil du dich selbst ja nicht einmal verstehst. Es heißt, sich bewusst zu werden, dass deine Kirche über einen ganzen Kontinent verteilt wurde, nicht zu wissen, wo der Einzelne ist, wann du jemals wieder an einem Platz zusammenkommst – oder ob überhaupt. Flüchtling zu sein bedeutet, den Kindern immer wieder zu versichern, dass alles gut wird, auch wenn du weißt, dass du ihnen das gar nicht versprechen kannst. Das Leben hat dir schon gezeigt, dass nicht alle gut ist – und für lange Zeit nicht mehr gut sein wird. Wir hatten etwas so Wunderbares und jetzt ist es verloren. Jetzt versuchen wir, das wieder zu erschaffen, hier an einem neuen Platz. Wir tun das für unsere Jungs, für unsere Kinder. Wir gehen zu Picknicks, kochen Eintopf und spielen Spiele. Wir umarmen uns, beruhigen und trösten uns. Wir versuchen zu leben, nicht nur zu existieren, nicht nur darauf zu warten, dass wir endlich wieder nach Hause können. Genau darin liegt unser Kampf.

Aber: Wir glauben, dass wir wieder nach Hause kommen. Wir glauben, dass die Ukraine siegreich sein kann. Wir glauben, dass das Licht die Dunkelheit besiegt, das Gute das Böse überwindet. Wir glauben, dass unsere Soldaten die tapfersten und stärksten sind. Wir glauben, dass unser Präsident der bestes ist, den es je gab oder geben könnte. Und wir glauben daran, dass die Arbeit, die Gott in der Ukraine begonnen hat, weitergeht. Deswegen haben wir Hoffnung.

Danke, dass ihr uns liebt, für uns betet, spendet und zu uns Kontakt aufnehmt und Hilfe anbietet. Bitte erinnert euch an die Ukraine. Betet für den Sieg und dass er bald kommt.

BeLOVE[d]

Samstag, 12. März 2022

Ein Brief am Samstagnacht

Hallo ihr Lieben alle,

seit Mittwochabend sind jetzt beide Gruppen von Flüchtlingen in Kaufbeuren angekommen. In der Nähe der Zentrale von Humedika gibt es eine freie christliche Gemeinde mit einem Gemeindezentrum, das tatsächlich mehr als 30 Leute (und davon 10 mit ganz speziellen Bedürfnissen) beherbergen kann - und das vorerst auch tut.
(vgl. deren Webside - dort gibt es auch einen Spendenaufruf...) 

Auch für mich gab es dort letzte Nacht noch einen Schlafplatz: Wenigstens kurz dabei zu sein, wie sich die Gruppe neu formiert, organisiert und ein provisorisches Kinderheim einrichtet, war ein ganz besonderes Erlebnis. Ich bin noch ganz erfüllt und dankbar für die vielen Begegnungen der vergangenen Tage und habe es genossen, auch ein Bisschen mitzuhelfen. Ich  habe ein Bisschen Kinder bespasst, war mit einer alten Dame beim Arzt und habe ein Bisschen Praxisanleitung/ Pflegeberatung gemacht ....


Wie es weitergeht ist noch unklar. Vorerst ist die Situation etwas provisorisch aber irgendwie auch richtig gut. Geplant ist (neben allem anderen, was Humedika angefangen hat in der Ukraine zu machen - siehe [wie gesagt]: facebook)  ein Hilfsgütertransport nach Shytomir: Lebensmittel, Hygienartikel, medizinische Produkte im großen Stil - eben das, was man braucht. 

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Aber auch ich hab noch einen ganz eigenen Plan und nach dem Gespräch mit Jed gestern Abend mag ich davon hier noch erzählen (damit ihr wisst, was ich im Moment vorhabe, mit gespendetem Geld zu machen.):

  • Jed und ich hatten vergangenen Herbst ein gemeinsames "Lastenbikeprojekt" angefangen. Ich hatte die Idee, so ein Teil zu kaufen und in die (damals noch einigermaßen friedliche) Ukraine zu bringen: vor allem (aber nicht nur) für Boris. Das Rollstuhlfahrrad von Wideawake war schon vor 3 Jahren eigentlich nur noch eine Ruine (dazu hab ich noch ein altes Bild gefunden: siehe Anhang) und ich hatte eine Minispendensammelaktion unter der Überschrift "Ein Bike für Boris" im Kopf.

  • Nach eine Probefahrt ist im Gespräch mit Jed aus dieser Idee ein Lastenbikebauprojekt entstanden. 
  • Jed hat mit Freunden in Shytomir angefangen, das erste ukrainische (?) Lastenfahrrad zusammen zu bauen. - Es klingt ein Bisschen verrückt, aber genau dieses Bauprojekt würden wir jetzt sogar noch ausweiten wollen. Plötzlich geht es nicht mehr nur um eine zeitgemäße und schöne Transportmöglchkeit für Boris, sondern darum, ernsthafte Transportmittel, die dieselunabhängig funktionieren, auf den Weg zu bringen. - Wer an uns spendet, würde sich im Moment vor allem an diesem Traum beteiligen.
     
  • Es gibt ein schon fast fertig gebautes Lastenfahrrad dort - mit E-Antrieb. Jed plant, die fehlenden Ersatzteile und möglichst 2 Akkus mit nach Shytomyr zu nehmen. (Ja, er denkt tatsächlich daran, bald wieder zurück zu gehen.- Aber das ist noch nicht wirklich sicher oder spruchreif und vielleicht ein Thema für das nächste Update.)

 So viel bzw. so wenig von hier. - Ich mag nicht unbedingt das erzählen, was Kim in ihren Videos erzählt. - Das Anschauen dieser Videos  lässt daran teilhaben, was da gerade passiert. Es lohnt sich.

Liebe Grüße
Matthias

Montag, 7. März 2022

Flucht II

 Hallo Ihr Lieben alle,

 nachdem ich angefangen habe, zu berichten, wollte ich euch hiermit anschließen, was aktuell passiert.

Die "Boys" und ihre Betreuer befinden sich im Moment in Ungarn auf dem Weg nach Kaufbeuren. Jed sagt, es gehe ihnen gut. Sie haben am Sonntag (nach Übernachtung in einer Kirche) zu Fuß die Grenze nach Rumänien überquert. 

 Jed mit family konnte mit den Autos dort die Ukraine nicht verlassen und steht im Moment 2 km vor der polnischen Grenze. 2 km, das sind noch ca. 5 h Wartezeit. In 5 h ist Andreas (ein Freund von uns aus dem Erzgebirge) hoffentlich mit einer Gruppe von Fahrern dort.  Sie werden die Fahrer, die dann fast 80 h am Steuer saßen, ablösen und die ganze Gruppe nach Krakau zu einer Übernachtungsmöglichkeit bringen. Von dort gehts dann weiter nach Westen.

 Ich hab mir gedacht, ein Zwischenstand ist ganz hilfreich und melde mich wieder, wenn etwas Neues passiert oder alle gesund und glücklich im Allgäu angekommen sind.

Liebe Grüße
Matthias

Samstag, 5. März 2022

Flucht

Hallo ihr Lieben alle,

 ich hab mich gefragt, was ich in der momentanen Situation machen kann - und das Einzige, was mir neben dem Beten noch eingefallen ist, ist: Netzwerke aktivieren und informieren. In den Jahren seit meinem letzten Rundbrief ist in der Ukraine etwas wirklich Besonders gewachsen.  (vgl. wideawakeinternational.org) Wir waren immer im Kontakt - von Familie zu Familie. - Als Freunde zusammen unterwegs. Aus einem idealistischen Projekt wurde der (immer wieder anstrengende, immer wieder wunderschöne und insgesamt aber auch ganz gewöhnliche) Alltag einer bunten, inklusiven und total genialen Community.

 Dieser Alltag hat sich in den letzten Tagen verändert und droht im Moment zu zerbrechen.

Jed ist mit seinen Family, den Jungs und einigen aufgelesenen Freunden (oder auch nur deren Kinder) im Moment auf der Flucht. - Sie haben alles, was sie in den letzten Jahren aufgebaut haben zurückgelassen um auf die Straße zu gehen. 45 Menschen auf der Flucht vor einer anrückenden Armee und vor allem auch der beginnenden humanitären Katastrophe, die dieser Krieg bedeutet.

 Bis jetzt waren sie geblieben, wollten standhalten, durchhalten, mit ihren Freunden sein, Beispiel geben, das sein, was wir als Christen sein sollen: ein Licht in der Dunkelheit. Aber die Lage droht einfach vollends zu kippen. Es scheint so zu sein, dass Putin zunehmend gnadenlos gegen die gesamte Zivilbevölkerung vorgeht. Auch das Dorf wenige Kilometer westlich von Shytomyr ist nicht länger sicher.

Das Ziel ihrer Reise ist Rumänien und die Partnergemeinde aus dem Allgäu holt sie dort ab und bringt sie nach Kaufbeuren zu Humedika. Dort verfügt Humedika über ein dichtes Netzwerke und eine starke Infrastruktur. Bereits in den letzten Wochen war Jed im Austausch. Was gerade geschieht ist vorher x-mal gedacht und lange geplant. - Aber es ist unvorstellbar schwer.

 Deswegen schreibe ich euch. In so einer Situation muss man einfach zusammenstehen, beten. Beten, dass die Flucht gelingt, die "Jungs" ruhig und steuerbar bleiben, sie Sicherheit und Hilfe finden auf dem Weg, selber Kraft und Geduld nicht verlieren...

 ...

 Falls ihr nähere Infos wollt (natürlich alle in englisch) müsst ihr nur wideawakeinternational.org googeln. Kim und Jed haben seit Beginn des Krieges jeden Tag ein Video auf youtube gepostet, das auch mit "geringeren" Englischkenntnissen sehenswert ist. (Untertitel einschalten hilft auch ein Bisschen).

 Und sonst: Wir haben noch unser altes Spendenkonto bei der EmK in Entringen. Ich weiß nicht, wie es mit Wideawake weitergeht, bin mir aber sicher, dass es auf jeden Fall Geld kostet. Für die Verwendung der dort eingehenden Gelder bin ich dem Gemeindevorstand gegenüber verantwortlich. Die Kirche kann Spendenbescheinigungen ausstellen. Humedika sammelt natürlich auch :) - und falls ich persönlich noch was  unternehmen sollte, werde ich sicher mit deren Geld und in deren Auftrag unterwegs sein. 

Liebe Grüße
Matthias