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Dienstag, 23. Januar 2018

The Path of Healing (Schlußteil) - ein anstrengender Alltag voller Routine und Liebe

Der praktischen Alltag mit Boris folgt einem immer gleichen Muster konsequenter Routine, jeder Menge sensorische Integration, Grenzen, kreativer und guter altmodischer Erziehung.
Wen Boris sich selber schlägt, weil er etwas nicht bekommt, was er möchte, dann muss er seinen Körper beruhigen. Wenn er dann ruhiger ist, dann bekommt er das, was er will. Das bedeutet, dass wir immer und immer wieder die ruhige Präsenz um ihn herum aufrechterhalten müssen. Das kann bedeuten, beim Essen für drei Minuten den Tisch zu verlassen. Das kann bedeuten sich 30 Minuten Zeit zu nehmen, das Haus zu verlassen und spazieren zu gehen.  
Boris wird es lernen, im Laufe der Zeit wird sich Vertrauen aufbauen, neue Verknüpfungen im Gehirn werden entstehen und mehr Verständnis wird wachsen.
Wenn ich mich für Empathie entscheide, wenn ich mich daran erinnere, woher Boris kommt und was er alles ertragen hat, wenn ich meinem Herzen erlaube immer und immer wieder zu brechen anstatt angesichts von Eintönigkeit und Frustration zu verhärten, dann kann Heilung entstehen.
Und wenn man Herz offen dafür ist, selber zu heilen, dann kann ich ein Werkzeug der Heilung für meinen lieben Freund sein
So ist unser Freund eine Herausforderung für uns. Und er ist ein Segen in einer Art und Weise, die wir nicht vorhersehen konnten. Mögen unsere Herzen offen bleiben und mögen die hart gewordenen Teile wieder weich werden. Möge jeder von uns die geliebten Menschen in unserem Leben als die wunderbaren Schätze sehen, die sie sind - würdig unserer Zeit, unserer Liebe, unseres Opfers und unserer Hingabe.

BeLOVE[d] (Seid Liebe/ geliebt)

The Path of Healing (Teil IV) - Verletzung und der Umgang damit

Die Reaktion, die seine Selbstverletzung in mir auslöst, ist überraschend. Es ist peinlich und hässlich zugleich, aber es ist das wahre Leben und wir sind einfach echte Menschen. Niemand von uns ist perfekt - am aller wenigsten ich. Mir wurde schnell klar, wie sehr ich Boris‘ selbstverletzendes Verhalten oder das Fehlen davon als Ausdruck meines persönlichen Erfolgs oder Misserfolgs sehe.

Wenn er sich nicht selbst verletzt fühl ich mich gut und warm, aber wenn er sich selber schlägt, merke wie ich mich ärgere, ungeduldig werde oder sogar ekle. Und Jed sitzt einfach da wie ein Zen-Meister….. grrrrr.

Klar möchte ich nicht, dass Boris sich selber verletzt! Aber es ist demütigend zu erkennen, wie schnell meine Gedanken sich in diesen Momenten weg von Ihm hin zu mir selber bewegen.

Ich habe das Gefühl zu versagen. Ich fühle Ekel. Ich bin ungeduldig. Ich frage mich, ob ich das wirklich auf lange Sicht machen kann. Ich, ich, ich ….
Mitgefühl und Einfühlungsvermögen haben keine Möglichkeit in einem Raum zu wachsen, der von Selbstsucht und Selbstmitleid erfüllt ist.

Es scheint, als sei Boris nicht der einzige, der Heilung braucht.
Die Zerbrochenheit von Boris, offenbart die gebrochenen Orte in unseren Herzen.
In dem wir seine körperlichen Bedürfnisse erfüllen, die er selber nicht erfüllen kann, finden wir Heilung. Auf der Suche nach Frieden für Herz und Geist von Boris, müssen wir uns auf den Heiligen Geist verlassen. Wir brauchen seine Weisheit so sehr. Wir brauchen Kraft, Geduld und Liebe, die nur von oben kommen kann.

In den harten Momenten ist es einfach, sich zu fragen ob es immer so sein wird. Werden die Dinge erst schlimmer und dann besser? Oder werden die Dinge erst schlechter und bleiben dann so? Niemand kann es sagen. Aber macht es denn einen Unterschied? Ist Boris dadurch weniger wert? Lohnt sich das JA nur, wenn es offensichtlich erfolgreich ist?
Was, wenn wir in zwanzig Jahren immer noch zu zweit sein müssen, um Boris die Windeln zu wechseln, nur um ihn sicher zu halten? Was wird meine Seele in solchen Momenten singen? Werde ich Zufriedenheit gefunden haben, im einfachen Akt des Dienens? Werde ich sagen können „Es tut meiner Seele gut“, oder werde ich bitter und nachtragend sein, dass mein Leben diese Wendung genommen hat?
Je früher wir lernen, im Geist unterwegs zu sein, desto besser – für uns, für unsere Kinder und für Boris. Je früher wir aufhören auf unsere eigenen Erfolge und Misserfolge zu schauen und Freude an der einfachen Handlung der Fürsorge zu haben, desto besser.
Das ist eine Reise, die wir nicht aus eigener Kraft antreten können. Wir würden es total vermasseln. Also lernen, atmen und (hoffentlich) ändern wir etwas, Tag für Tag.
(noch eine Fortsetzung folgt)

The Path of Healing (Teil III) - wie Boris mit seiner Situation umgeht

Kim schreibt wieder:
Jetzt, bei uns, überlebt Boris nicht mehr nur, sondern er lebt in einer Welt, in der alle Bedürfnisse befriedigt werden. Und nicht nur das: Seine Bedürfnisse, sein Verlangen und seine Wünsche. Und daraus ergibt sich ein neuer Kampf. Denn jetzt muss Boris lernen seine Wünsche und sein Verlangen von seinen Bedürfnissen zu unterscheiden.
Als Mutter sage ich euch: Ein schreiendes Kleinkind ist nicht wirklich in der Lage, zwischen seinen Wünschen und seinen Bedürfnissen zu unterscheiden. Im Moment ist Boris ein bisschen wie ein großes dreijähriges Kind. Der Unterschied ist, dass er mehr Traumata erleben musste als je ein Mensch das sollte. Er möchte Dinge und er möchte sie JETZT. Seine Reaktion darauf, Dinge zu wollen oder zu brauchen, ist immer genau dieselbe – Selbstverletzung.
Wenn Boris begeistert ist, schlägt er sich. Wenn Boris frustriert ist, schlägt er sich. Wenn Boris Aufmerksamkeit möchte, schlägt er sich. Er verarbeitet die meisten Sehnsüchte, Emotionen, Bedürfnisse und Wünsche irgendwo zwischen Selbstverletzung, unkontrollierten motorischen Aktionen, Lachen, Schwitzen, Schaukeln, erhöhter Herzfrequenz und Zirpen.
Wir haben das Gefühl, dass es zuerst schlimmer wird, bevor es besser werden kann. Er muss eine neue Art des Daseins lernen, eine neue Art der Kommunikation, eine neue Art, die Welt um sich herum wahrzunehmen.
Mit 25 Jahren ist das eine ziemlich große Aufgabe.
(Fortsetzung folgt) 

The Path of Healing (Teil II) - eine Art Analyse

Im Teil 2 beschreibt Jed eine vergleichsweise distanzierte Sicht der Situation...

„In den letzten 19 Jahren, während Boris in dieser Anstalt lebte, war das einzige das er tun konnte, zu überleben. Dieses „überleben“ brachte ihn in einen Zustand von Angst und toxischem Stress. Er lebte sein Leben nicht wirklich. Er wusste, was sein Körper brauchte: Essen, Wärme und Sicherheit - und er kämpfte dafür, diese Bedürfnisse erfüllt zu bekommen.
Der Kampf und die Umgebung in der er sich bewegte, formten seinen Körper aber auch sein Gehirn. Unsere Gehirne sind absolut bemerkenswert darin, zu verarbeiten, wie wir als grundlegend soziale Wesen leben.Die physische, soziale, emotionale und spirituelle Welt um uns herum und in uns ist der Kontext, in dem unser Gehirn arbeitet. Aus all diesen Informationen interpretiert unser Gehirn schließlich eine Vorgehensweise und informiert den Rest des Körpers darüber wie er zu handeln und zu reagieren hat (in diesem Augenblick und auch beim nächsten Mal).
Unsere Gehirne sind etwas zutiefst Komplexes und wir können nur darüber staunen, wie sie arbeiten. Wie unser Gehirn funktioniert hängt also seinem aktuellen Zustand ab. Wenn wir ruhig sind, können wir klar und mit vollen Zugriff auf unseren intellektuellen Fähigkeiten denken.
Denk nur an Elon Musk, wie er in seinem Büro sitzt, sicher, gesund und satt und von einer coolen Weltraumreise träumt. Umgekehrt, wenn wir in einem Zustand des Terrors sind, reagieren wir schnell; komplexe und abstrakte Verarbeitung von Gedanken wird unwesentlich und unzugänglich. Stell dir vor du sitzt an einem Küchentisch und versuchst deinem Kind bei den Geometrie Hausaufgaben zu helfen, während ein hungriger Tiger um euch herum schleicht.Stell dir vor du lebst deine gesamte Kindheit und bis ins Erwachsenenalter hinein zwischen toxischem Stress und Terror. Unsicher ob du sicher bist oder jeden Moment verletzt wirst, dich fragend ob du noch etwas zu essen bekommst oder ob dein Bauch vor Hunger weh tun wird, während du versuchst, bei all den Geräuschen der anderen Jungs einzuschlafen, die in der selben schrecklichen Realität wie du versuchen zu überleben.
Das Trauma des täglichen Lebens und Überlebens ist der Nährboden auf dem Boris’ Gehirn gewachsen ist und letztendlich verwüstet wurde. Anstatt zu wachsen, hat sein Gehirn all die Dinge, die es für nutzlos hielt, ausgeblendet: Die Notwendigkeit von Freundschaft und menschlichen Kontakten, die Lust zu Spielen, das Verständnis von Bewegung, Balance, motorische Fähigkeiten und der Wahrnehmung seines Körpers im Raum. - Er reduzierte sein Leben auf Hirnstamm- und Kleinhirnfunktionen.
Stell dir vor, dein gesamtes Leben wird nur noch von dem Teil deines Gehirnes verarbeitet, der für die Kernfunktionen zuständig ist, die Regulation der Motorik, Appetit und Sättigung, mehr nicht. So besteht sehr gut die Möglichkeit, dass du Verhaltensweisen entwickelst, die für andere um dich herum merkwürdig und unangemessen erscheinen.
Boris lernte seine Gedanken zu fokussieren, mit seinen Gefühlen umzugehen, seine Bedürfnisse zu kommunizieren und sich durch selbstverletzendes Verhalten auszudrücken. Während wir ihn in der Anstalt begleiteten kam er zunehmend in Kontakt mit seinen Gefühlen (original: „we started seeing him process a bit through his limbic system“). Er hat angefangen angemessen und unangemessen zu lachen. Nichts Großes und trotzdem eine Entwicklung."


(Fortsetzung - dann wieder von Kim - folgt) 

The Path of Healing - in deutsch (Teil I)

Immer und immer wieder lese ich die Rundbriefe oder Blogbeiträge von Kim. Dieses Mal war ich so berührt, dass ich gefragt habe, ob ich den Beitrag auf deutsch übersetzen und einfach nochmal veröffentlichen darf.

Ich darf.

Die Übersetzungsarbeit hat mir meine geliebte Tochter Deborah abgenommen :)

Kim schreibt:

Seit gestern lebt Boris nun einen Monat bei uns. Wir haben eine sehr breite Palette an Gefühlen durchlebt. Zu viele Gefühle wurden gefühlt und zu viele Gedanken gedacht. Es ist an einem Tag zugleich gut und schlecht, wunderbar und schrecklich, leicht und schwer. Es gibt einfach kein Handbuch dafür, wie man einen 25-Jährigen bei sich aufnimmt, der in seinem Leben bisher nur Missbrauch und schwere Vernachlässigung erlebt hat. Er hat als er eingezogen ist kein Handbuch mitgebracht, in dem erklärt wird wie man ihm helfen kann Heilung zu erfahren, wie man ihn in die Familie integrieren oder ihn und die neue Norm die er mitbringt als Familie akzeptiert. Wir lernen alle und im Lernen heilen wir.
Wir haben in den letzten Tagen viel von Jean Vanier gelesen.
Die Weisheit, die er in vielen Jahren des Zusammenlebens mit Menschen mit geistiger Behinderung erworben hat, ist für uns erstaunlich hilfreich. „Die Weisheit der Zärtlichkeit“, um es in seinen eigenen Worten zu sagen. Wenn du noch nie eins seiner Werke gelesen hast, möchte ich sie dir hiermit ans Herz legen.
„Wenn wir unser Leben mit den Machtlosen teilen, sind wir verpflichtet, unsere Theorien über die Welt, unsere Träume und unsere schönen Gedanken über Gott los zu lassen, um in einer Realität zu lande, die ziemlich hart sein kann. Das ist der Platz, wo wir Gott treffen, Gott der Immanuel ist, der Gott-mit-uns. Dort ist Gott gegenwärtig, verborgen in der verwundeten Menschheit, verborgen im Schmerz unserer eigenen Herzen.“
Jean Vanier. The Heart Of L‘Arche


Dieses Zitat sagt eigentlich alles. Ich könnte also aufhören zu schreiben, aber das werde ich natürlich nicht 😊



Boris hat die meiste Zeit seines Lebens gekämpft um zu überleben. Er ist ein richtiger Überlebenskünstler - nur deshalb ist er überhaupt noch am Leben. Er ist ein Kämpfer und gleichzeitig ist er ein kleiner sturer Kerl. Diese Eigenschaften haben ihm in der Institution in der er bisher lebte gut gedient und sie werden ihm wieder gut dienen, doch um ganz ehrlich zu sein, dienen sie im Moment besonders dazu, die eigene Schwäche in meinem Herzen aufzudecken. 
Dieser Kampf ist total real.
(Fortsetzung folgt)